Blaue Weihnachten

Content Warnung: In dieser Geschichte geht es um Alkoholsucht, Depressionen, Einsamkeit, Missbrauch, psychische und physische Gewalt. Wenn du dennoch weiterlesen willst - gute Unterhaltung. Du darfst die Geschichte gern in meinem Gästebuch kommentieren, wenn dir danach ist.

Schlaftrunken zog Ramona das Rollo ihres Schlafzimmerfensters nach oben. Sie traute ihren Augen nicht. Hatte sie normalerweise einen Ausblick über die ganze Stadt, so glaubte sie jetzt, vor eine einzige weiße Wand zu schauen. Ja, der Wetterbericht hatte vorausgesagt, dass es in diesem Jahr weiße Weihnachten geben würde, aber das da draußen überstieg ihre kühnsten Vorstellungen. Die Landschaft gab ihr heute einen Eindruck davon, wie das Lennetal während der letzten Eiszeit ausgesehen hatte.
Es war auch hier im Schlafzimmer kalt. Schnell sah sie sich im Zimmer um und griff nach dem erstbesten Oberteil, das ihr Wärme versprach, ihrer grünen Fleecejacke. Mehr automatisch, als wirklich bewusst, war sie schon, als sie aus dem Bett gestiegen war, in ihre Pantoffeln geschlüpft. Jetzt erst einmal Frühstück und dann überlegen, wie sie bei dem Wetter nach Lüdenscheid kam. Fuhr überhaupt noch ein Bus?
Bereits, als sie die Schlafzimmertür öffnete, sah sie die Anzeige ihres Anrufbeantworters blinken. Bestimmt hatte Thomas ihr noch etwas draufgesprochen, um ihr zu sagen, was sie mitbringen sollte. Sie drückte auf die Lautsprechertaste und ging um die Ecke in die Küche, um die Kaffeemaschine anzustellen.
«Zwei neue Nachrichten», verkündete die blecherne Stimme. «Nachricht eins: Sssccchhhaaatz, komm bidde schnäll morgen früh … Sch lieb dööch ...»
Ramona atmete tief durch. Sie musste einen klaren Kopf bewahren, weil Thomas seinen schon wieder im Alkohol ertränkt hatte. Wie oft hatte sie gehofft, dass die Therapien endlich Wirkung zeigten? Dass er endlich begriff, dass nur er selbst sich aus seiner Alkoholsucht befreien konnte? Und dass das nur passieren würde, wenn er für den Rest seines Lebens konsequent auf Alkohol verzichten würde?
Immer, wenn er aus der Klinik kam, hatte sie seinen Beteuerungen geglaubt. Sie hatte ihm zugehört, wenn er wieder gegen seine psychische Abhängigkeit, die er «Saufdruck» nannte, kämpfte. Wenn sie von der Arbeit kam und schon an der Straßenkreuzung Death Metal in ohrenbetäubender Lautstärke aus seinem Küchenfenster schallen hörte, hatte sie es stumm ertragen. Hatte sich von seinem besten Freund und seiner Frau vorwerfen lassen, die Schuld daran zu tragen, dass er nicht trocken blieb, weil sie ja keinen Sex mit ihm haben wollte. Selbst darüber, dass Thomas mit Michael und Manuela offen über ihr Sexleben redete, natürlich nur über seine Sicht der Dinge, hatte sie nie ein Wort verloren. Aber hätte sie nachgegeben und mit ihm geschlafen, egal, ob er betrunken war, oder nicht, hätte sie sich wie eine Prostituierte gefühlt. Es widerte sie an, dass sie mit einer wandelnden Schnapsflasche schlafen sollte.
Wenn er mal wieder in die Klinik musste, hatte sie sich um Leo und Charlie gekümmert. Hatte ertragen, dass die beiden unsauber wurden, weil Thomas oft tage- und nicht selten auch wochenlang das Katzenklo nicht saubermachte. Wahrscheinlich hatte die Unsauberkeit noch andere Ursachen, aber der unerträgliche Gestank, der von den Streukisten ausging, war allein schon Grund genug.
Unbewusst hatte sie auf die Stopp-Taste des Anrufbeantworters gedrückt. Die dampfen­de Kaffeetasse in der Hand tippte sie wieder auf die Lautsprechertaste, um die zweite Nachricht abzuhören.
«Eine neue Nachricht.» Wieder die blecherne Stimme des Anrufbeantworters. «Nachricht eins: Guten Morgen, Frau Wiebel, hier ist Kleinfeld. Herr Engel hat mich heute Nacht angerufen und angegeben, gefährliche Substanzen zu sich genommen zu haben. Ich habe ihm einen Krankenwagen gerufen, war aber selbst nicht vor Ort. Bitte kümmern Sie sich darum, dass er seine nötigsten Dinge in die Klinik bekommt. Ich wünsche ihnen trotzdem frohe Weihnachten … Keine neue Nachricht.»
Der Anrufbeantworter verstummte. Ramona sank an der Wand auf den Boden und starrte ins Leere. «Danke für nichts», murmelte sie.
Wäre es das erste Mal in der Beziehung mit Thomas gewesen, dass sie eine solche Nachricht bekam, hätte die sie wahrscheinlich schockiert. So aber fühlte sie seltsam wenig für die Tatsache, dass ihr Freund, so wie es aussah, versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Besser, er hatte es vorgegeben. Dass er seine Betreuerin angerufen hatte, zeigte ihr, dass er nicht ernsthaft hatte sterben wollen.
Ihm zuliebe hatte sie zugesagt, den Heiligen Abend bei ihm in Lüdenscheid zu verbringen. Hatte teuer eingekauft und einen Braten eingelegt, der jetzt in seinem Kühlschrank darauf wartete, angebraten, gar geschmort und dann gegessen zu werden. Wenn noch ein Bus nach Lüdenscheid fuhr, würde sie den nehmen, in seiner Wohnung für ihn seine Tasche packen, die dann irgendwie in die Klinik bringen und dann, zurück in seiner Wohnung, das Fleisch garen und einfrieren. Und die ganze Zeit Stoßgebete zum Himmel schicken, dass noch ein Zug zu ihrer Familie fuhr, wenn sie auch die beiden Kater versorgt hatte.
Sie packte einen kleinen Rollkoffer für die nächsten Tage. Danach ging sie duschen. Die Kleidung, die sie anzog, suggerierte eher, dass sie zu einer Polarexpedition aufbrechen wollte, als auf den Weg zu ihrem Freund in die benachbarte Stadt. Nach einem prüfenden Blick durch ihr Küchenfenster griff sie nach ihren kniehohen Stiefeln und zog sie an. Kam sie überhaupt in Lüdenscheid an, würde garantiert kein Bus nach Hellersen hinaus zum Krankenhaus fahren.
Die Stiefel hatte Ramona erst drei Wochen zuvor gekauft. Eigentlich zu einem anderen Zweck, als am Heiligabend mit einem Army-Rucksack auf dem Rücken durch kniehohen Schnee drei Kilometer stetig bergauf zu laufen, um einem Menschen, der sein Leben nicht im Griff hatte und sie dafür verantwortlich machte, den Arsch zu retten. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hielten sie gerade nur Leo, Charlie und der Weihnachtsbraten in Thomas’ Kühlschrank davon ab, am Busbahnhof vorbeizugehen und mit dem Zug zu ihrer Familie zu fahren.
Den Rollkoffer durch den immer tiefer werdenden Schnee auf der Straße zu ziehen, trieb ihr trotz der Kälte den Schweiß auf die Stirn. Trotzdem lockerte sie weder den Schal, noch nahm sie ihre Mütze ab oder zog die Handschuhe aus. Schon auf dem sicher vor einer Stunde erst frei geschobenen Bürgersteig versanken ihre Füße vollständig im Weiß, ihre Stiefel waren aber erstaunlich wasserdicht. Und rutschfest, was ihr auf dem steilen Abhang durch den Wald runter zum Busbahnhof sehr entgegenkam.
Der Busbahnhof war verlassen. Unter dem Vordach des Supermarktes stand ein einsamer Mann, auf dessen Jacke das Emblem der örtlichen Verkehrsgesellschaft prangte. Ramona stapfte auf ihn zu.
«Fahren heute noch Busse?», fragte sie.
«Wo wollnse  denn hin?», erwiderte der Mann mit einem schiefen Grinsen.
«Nach Lüdenscheid», sagte Ramona.
«Da kommt gleich noch eine Einundsechzig. Aber ob die auch in Lüdenscheid ankommt, kann ich Ihnen nicht sagen», sagte der Mann.
«Nein, das kann wohl bei diesem Wetter niemand», antwortete Ramona. «Schöne Feiertage!»
Ganz toll. Wieder spürte sie die Versuchung, einfach rüber zum Bahngleis zu stapfen und zu ihrer Familie zu fahren. Aber Thomas hatte bestimmt nicht mehr daran gedacht, die Kater zu füttern. Und wenn sie den Braten nicht heute verarbeitete, konnte Thomas ihn nach Weihnachten wegwerfen. Scheiß Verantwortungsbewusstsein!
Der Bus rollte in den Busbahnhof ein. Da hier der Beginn seiner Route war, saß außer dem Fahrer niemand darin. Unter normalen Umständen hätte Ramona jetzt auf den Schnellbus gewartet, aber erstens kam der mit Sicherheit nicht mehr und zweitens fuhr der über den Berg nach Lüdenscheid; da kam er bestimmt nicht hoch.
«Sie sind aber mutig», sagte der Fahrer, als sie durch die offene Vordertür einstieg.
«Ja, ein bisschen Wahnsinn gehört dazu», erwiderte Ramona. «Bei mir heute sogar ein bisschen mehr. Ich muss nämlich zum Sauerfeld.»
Der Busfahrer zog eine Augenbraue hoch. «Das kann ich nicht garantieren», murmelte er.
«Ich muss es trotzdem versuchen», sagte Ramona, lenkte den Rollkoffer in den Zwischenraum eines Vierersitzes und setzte sich auf den Platz ans Fenster.
Selbst in der Innenstadt fuhr der Bus nur in Schrittgeschwindigkeit. Das Schneetreiben wurde immer dichter und die weiße Deck auf Straßen und Häusern immer dicker. Nein, nach Hellersen fuhr auf keinen Fall mehr ein Bus. Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche. Wenn Ramona in Lüdenscheid ankam, würde sie als erstes Leo und Charly versorgen. So konnte sie sich ein wenig aufwärmen, bevor sie zur Klinik lief.
Außerhalb der Stadt war die Landschaft fast nicht mehr zu erkennen. Obwohl es kurz vor Mittag war, konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Abenddämmerung bereits eingesetzt hätte. Vor dem Waldrand hoben sich die wenigen Häuser von Bärenstein ab. Wo die Lenne verlief, musste Ramona erahnen.
Sie hatte noch nie solche Schneemassen gesehen. Normalerweise hätte sie sich über dieses Wetter sogar gefreut. Es war erst ihre dritte weiße Weihnacht, obwohl sie siebenundzwanzig Jahre alt war. Normalerweise – das hieß, wenn sie sich aussuchen konnte, ob und wann sie aus dem Haus ging und wann sie wieder ins Haus zurückkehrte. Jetzt wirkte der Schnee wie ein Wolf im Schafspelz. Feindlich, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen. Mit jeder Flocke schwand ihre Hoffnung, noch am Heiligabend zu ihrer Familie zu fahren. Die Bahn war ja schon bei Regen und Sturm unzuverlässig. Wie sah es dann erst jetzt aus?
«Letzte große Steigung vor dem Sauerfeld», rief der Busfahrer. «Wenn wir oben an der Ampel ankommen, kommen Sie auch zum Sauerfeld.»
Ramona hatte wegen des einheitlichen Weiß gar nicht gemerkt, dass sich vor ihnen bereits die Autobahnbrücke erhob. Der Fahrer hatte Recht. Wenn der Bus die Steigung von hier bis zum Ortseingangsschild in Lüdenscheid schaffte, ging es den Rest des Weges praktisch nur noch bergab. Natürlich konnte es immer sein, dass es in der Stadt gekracht hatte, aber dann waren sie schon so weit gekommen, dass sie den Rest des Weges auch zu Fuß gehen konnte.
Sie hörte, wie die Räder des Busses immer wieder durchdrehten und der Motor arbeiten musste. Meter für Meter pflügte sich das Fahrzeug den Berg hinauf. Jetzt nur nicht festfahren.
Ramona atmete auf, als der Bus die Ampel auf der Kuppe passierte. Sie griff ihren Rollkoffer und stellte ihn hinter die Scheibe, die die erste Sitzreihe vom Einstiegsbereich trennte, und setzte sich auf den Platz daneben.
«Sie haben Glück gehabt», sagte der Busfahrer. «Ich habe gerade einen Funkspruch bekommen, dass alle Busse, die jetzt an ihrem Fahrtziel ankommen, auch dort stehenbleiben. In einer halben Stunde fährt nichts mehr.»
«Ja, Glück gehabt», murmelte Ramona.
Oder Pech, dachte sie. Wäre der Bus in Werdohl erst gar nicht losgefahren, hätte sich die Frage erübrigt, ob sie es am Abend noch nach Arnsberg zu ihrer Familie schaffte. Dann wäre sie sofort in den Zug gestiegen. Hätte vielleicht jetzt schon den Bahnhof in Hagen erreicht.
Für Leo und Charlie hätte sie schon eine Lösung gefunden. Auch wenn es nicht ihre Aufgabe war, schließlich waren es nicht ihre Katzen. Aber irgendwie hatten sich die beiden auch in ihr Herz geschnurrt. Besonders Charlie schien sie von dem Zeitpunkt, als Thomas die beiden aus dem Tierheim geholt hatte, lieber zu mögen, als seinen Besitzer.
Der Bus hielt an der Ecke, an der er normalerweise ins Sauerfeld abbog, in einer Parkbucht. Der Fahrer wandte sich zu ihr um.
«Würde es Ihnen etwas ausmachen, hier auszusteigen?», fragte er. «Dann kann ich direkt geradeaus weiter ins Depot.»
«Nein, kein Problem», sagte Ramona und griff nach ihrem Koffer.
Es war ihr wirklich egal. Im Gegenteil. Wenn sie an der Bushaltestelle hätte aussteigen müssen, wäre schon der abschüssige Gehweg bis zur Unterführung, die direkt in die Südstraße führte, in der Thomas wohnte, zur Herausforderung geworden. So stieg sie in der Parkbucht aus und wuchtete ihren Rollkoffer auf den hoch mit Schnee bedeckten Bürgersteig.
«Vielen Dank», sagte sie. «Und frohe Weihnachten.»
«Ihnen auch», erwiderte der Busfahrer. «Und kommen Sie gut durch das Wetter.»
Die Türen des Busses schlossen sich und Ramona war wieder allein. Nur noch einzelne Autos waren auf der Straße. Wer eben konnte, blieb daheim. Selbst die Ampelanlagen waren ausgeschaltet. Das geschah sonst nur spätabends.
Hier in Lüdenscheid war der Schnee noch höher als in Werdohl. Normalerweise wunderte sie das nicht, lag Lüdenscheid doch einige Höhenmeter weiter oben, aber heute Morgen hatte es ihre Vorstellungskraft gesprengt, dass es binnen einer Nacht so viel schneien konnte, dass aus einer Schneedecke, in die man vielleicht mit den Schuhsohlen versank, dieses Chaos werden konnte.
Die Bewohner der Südstraße hatten trotz der unvermindert fallenden Flocken scheinbar zwischendurch den Gehsteig frei geschoben. Dort war es fast angenehm, den Koffer hinter sich her zu ziehen.
Ramona kramte in ihrer Manteltasche nach dem Schlüssel. Thomas hatte ihn ihr gegeben, als er in diese Wohnung gezogen war. Sie hatte es als Vertrauensbeweis gesehen. Mittlerweile dachte sie anders darüber. Sie hatte den Schlüssel, damit Thomas jederzeit jemanden hatte, auf den er die Verantwortung für sein eigenes Leben abwälzen konnte. Wie heute.
Das Treppenhaus empfing sie kalt. Wie in den meisten Häusern, die vor dem Ersten Weltkrieg erbaut worden waren, gab es nur in den Wohnungen Heizung. Ramona schaute durch den Schlitz in Thomas’ Briefkasten hinter der Haustür. Meistens war er leer, denn die Betreuerin nahm auch seine Post mit. Im Grunde brauchte er sich um überhaupt nichts mehr zu kümmern. Auch jetzt lag nur ein Flyer eines Pizza-Lieferdienstes darin. Den konnte er nach Weihnachten selbst entsorgen.
Ramona klappte den Griff ihres Koffers ein und ging die ausgetretenen Stufen in den zweiten Stock hinauf. Schon als sie den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür steckte, hörte sie es dahinter rumoren. Trotz der Wut musste sie lächeln. Wenn sie die Tür jetzt öffnete, konnte sie froh sein, wenn sie es schaffte, den Koffer abzustellen, bevor entweder Leo oder Charlie ihr maunzend erzählten, was sie gerade beschäftigte. Deshalb schob sie als erstes den Koffer durch den Türspalt, bevor sie durch die Öffnung schlüpfte.
Sie zwang sich, nicht zu atmen, bis dass sie die hinter der Tür liegende Küche durchquert und trotz der Kälte draußen ein Fenster geöffnet hatte. Auch, wenn der Schnee jetzt eindrang, musste das sein. Die Gerüche aus abgestandenem Essen, tagelang nicht ausgeleerten Aschenbechern, verschüttetem Schnaps und den Ausscheidungen der Kater war nicht anders zu ertragen. Ramona kämpfte den Drang nieder, sofort im Bad zu verschwinden und ihr Frühstück der Toilette zu übergeben. Stattdessen ging sie in die Knie und kraulte die beiden hinter ihr wartenden Kater.
«Na, ihr Racker», sagte sie. «Was haltet ihr davon, gleich mal wieder euer Geschäft im Katzenklo zu erledigen? Ich mach das jetzt sauber. Euer Dosenöffner kann noch warten. Ihr wartet schließlich auch immer auf ein sauberes Klo.»
Sie zog ihren Mantel, die Mütze und die Handschuhe aus. Den Schal zog sie sich über die Nase. Dann nahm sie einen Müllsack aus dem Küchenschrank und ging in die Abstellecke. Schon mit geschlossener Haube auf den Katzenklos und ihrem Schal vor dem Gesicht roch sie den beißenden Ammoniakgestank, der von den Streuwannen ausging.
Charlie schaute neugierig hinter ihr hervor, blieb aber auf Abstand. Ramona konnte es ihm nicht verdenken. Auch wenn er und Leo den Gestank verursacht hatten, konnten sie ja nichts dafür. Sie konnten schließlich nicht selbst das schmutzige Katzenstreu in einen Sack schaufeln und zur Mülltonne bringen.
Einen halben Sack Katzenstreu und einen Müllsack entleertes Katzenklo später betrachtete Ramona zufrieden ihr Werk. Bis Thomas aus der Klinik kam, würden die Fellnasen keine neue Streu brauchen.
Der Army-Rucksack war schnell gepackt. Als sie wieder in die Küche kam und das Fenster schloss, musste sie beim Anblick der beiden auf ihrem Koffer kauernden Kater lachen.
«Nein, den nehme ich jetzt nicht mit», sagte sie. «Ich bringe jetzt eurem Besitzer seine Sachen und komme dann wieder.»
Wieder einmal fiel ihr auf, dass sie mit sie mit Charlie und Leo tiefer gehende Gespräche führte, als es mit Thomas möglich war. Und wenn sie ehrlich war, unterhielt sie sich auch lieber mit ihnen.
Sie hatte die ganzen Ausreden so satt. Nein, natürlich konnte sie sich nicht vorstellen, wie es war, von einer Sucht loskommen zu müssen. Sie hatte schließlich nie in ihrem Leben geraucht, mochte keine starken Alkoholika und hatte um die einschlägigen Ecken, wo man alles bekam, wenn man nur genug zahlte, immer einen großen Bogen gemacht.
Der Schneefall war weniger geworden. Ramona atmete auf. Auch wenn vor ihrer Nase immer noch weiße Flocken tanzten, konnte sie bis zur Unterführung oben an der Straße schauen.
Oft hatte sie verflucht, dass Thomas keinen Rollkoffer hatte und sie, wenn er länger in der Klinik war, in regelmäßigen Abständen den Rucksack mit Wäsche zum Wechseln mitnehmen musste. Heute aber war es praktisch, seine Habseligkeiten auf dem Rücken zu tragen. 
Sie kam sich vor wie eine Abenteurerin auf Expedition. Im Grunde entdeckte sie ja auch gerade eine ganz neue Seite an Lüdenscheid. Solche Schneemassen hatte sie bis jetzt nur in den österreichischen Alpen gesehen. Und da hatte sie in eine warme Decke gehüllt auf einem Sofa gesessen und hatte einen Fernsehbildschirm vor sich, der ihr diese Bilder zeigte.
Je weiter sie die Straße am Sauerfeld hinauf in Richtung Stadtrand lief, umso tiefer wurde auch der Schnee. Dass sie ihre Knie von Schritt zu Schritt höher ziehen musste, um nicht stecken zu bleiben, sorgte wenigstens dafür, dass sie nicht fror. Die Atemwolken vor ihrem Mund wurden größer und dichter.
Kurz vor dem Ortsausgangsschild bog sie in die Zufahrtsstraße zu den Kliniken ein. Das Bistro an der Sportklinik hatte noch geöffnet. Obwohl an die Klinik angeschlossen, zog das Restaurant Kundschaft aus der ganzen Stadt an. Sehnsüchtig dachte Ramona an den Apfelstrudel, den sie dort immer während der Weihnachtszeit servierten. Obwohl sie in diesem Moment nichts als Wut für Thomas empfand und nichts lieber getan hätte, als ihn noch ein wenig schmoren zu lassen und jetzt und hier gemütlich eine Tasse Kaffee zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen, dachte sie an die spätestens in einer Stunde einsetzende Abenddämmerung. Bis dahin wollte sie auf dem Rückweg sein.
Sie ging am Haupthaus der Stadtklinik vorbei und versuchte, den Weg zu den anderen Klinikgebäuden auszumachen. Die Hinweisschilder hatten weiße Hauben, unter denen viele von ihnen nicht mehr zu lesen waren. Ramona versuchte, sich zu erinnern, welchen der abzweigenden Fußwege sie nehmen musste, um zum Haus fünf zu kommen, der Station für Suchtkranke. Oder besser gesagt, den Stationen. In den Obergeschossen waren die offenen Stationen. Die Patienten, die dort waren, durften tagsüber das Gebäude verlassen und auf den Klinikgelände spazieren gehen.
Hoffentlich landest du irgendwann mal im Erdgeschoss, dachte Ramona. Dort war die geschlossene Station, deren Insassen nicht raus durften. Die Kontrollen des Gepäcks und ihrer eigenen Sachen wäre ein Klacks gegen die Lektion, die Thomas lernen würde. Oder, besser, lernen könnte.
Wenn Thomas hier war, hatte er fast noch ein angenehmeres Leben, als ohne hin schon. Jedenfalls in Ramonas Augen. Natürlich war der körperliche Entzug hart. Aber es war Besuchern verboten, mit den Patienten über ihre Sucht und die Folgen zu diskutieren. Und wenn Thomas aus der Klinik nachhause kam, hatte sie ihre Wut regelmäßig schon so weit in sich rein gefressen, dass sie von sich aus das Thema nicht mehr anfing. Was Thomas ihr erwiderte, wenn sie es doch tat, hätte sie auch beim ersten Mal auf ein Diktiergerät speichern und dann immer wieder abspielen können. Es hätte nichts geändert. Immer Ausreden, wie schwer es doch sei, Tag für Tag gegen den Saufdruck anzukämpfen, der Vorwurf, zu wenig für ihn zu tun und die Versuche, sie mit halbherzigen Floskeln zu beruhigen.
Fing er dann wieder an zu trinken, führte sie oft stundenlange Diskussionen mit Thomas’ selbsternanntem «Schwesterchen» Manuela. Die beiden waren nicht verwandt. Manuela war die Frau von Thomas’ bestem Freund Michael. Sie fühlte sich dazu berufen, Ramona regelmäßig runter zu machen, weil sie mit ihm ja nicht einmal Sex haben wolle. Da müsse sie, Ramona, sich nicht wundern, wenn er es nicht schaffen würde, trocken zu bleiben.
In diesen Momenten fiel ihr der Dezember vor zwei Jahren wieder ein. Thomas hatte Hals über Kopf von Siegen nach Lüdenscheid umziehen müssen. Sein dortiger Betreuer hatte schon vorgeschlagen, er solle in ihre Wohnung mit einziehen. Das hätte dazu geführt, dass wir beide obdachlos gewesen wären, dachte sie, denn ihre Vermieterin hätte niemals mitgemacht, dass er in den Mietvertrag hineinkam. Ganz zu schweigen davon, dass ihre Wohnung viel zu klein für zwei Personen war. Ja, sie hatten die Wohnung in der Südstraße sehr schnell gefunden, aber wenn Michael und Manuela beim Umzug geholfen hätten, wäre ihnen weder Ramona, noch Thomas wirklich böse gewesen. Stattdessen hatten die beiden aber nichts besseres zu tun, als sich von Mitte November bis kurz vor Thomas’ Geburtstag im April nicht zu melden. Bei dem Gedanken an die bei­den spuckte Ramona gedanklich Gift und Galle.
Sie war mittlerweile auf dem Vorplatz von Haus fünf angekommen und sah die Fassade hinauf. Thomas hatte ihr eine SMS geschrieben, dass er auf Station 3.1 sein Zimmer hatte. Auch wenn der Aufzug eigentlich nur für Patienten gedacht war, bestieg Ramona ihn jetzt. Die Aufzugtüren schlossen sich und Ramona nahm einige tiefe Atemzüge, um sich für das, was sie erwartete, zu wappnen.
Welche ‚Bekanntschaften‘ Thomas jetzt wieder schloss? Er suchte sich treffsicher immer die aus, die schon mehrere Entgiftungen hinter sich hatten, wie er. Damit er wieder ein Beispiel hatte, dass er selbst nicht so schlimm war. Wie sie diese Unterhaltungen hasste! Am liebsten hätte sie ihm vor seinen Klinikkumpanen ins Gesicht geschrien, was sie selbst von seiner Art der Vorbilder hielt. Dass es immer jemanden gab, der noch beschissener mit seiner Sucht umging und man für alles ein Beispiel fand, das einem passte.
Sie hatte auch ein Beispiel von Alkoholsucht in ihrer Familie gehabt, von dem Thomas aber nichts wissen wollte. Ihr Onkel Heinrich war abhängig gewesen. Aber es hatte eine Entgiftung und eine Rehabilitation gebraucht, um ihn auf den Weg der Suchtfreiheit zurückzuführen. Heute ging er wieder einer geregelten Arbeit im Büro eines Bauunternehmens nach und trank nicht mehr.
Die Aufzugtüren glitten auf. Sie ging durch die Glastür und suchte jemanden, der ihr sagen konnte, wo Thomas jetzt war. Eine Schwester kam lächelnd auf sie zu.
«Ach, Frau Wiebel! Da sind Sie ja! Herr Engel spricht gerade mit dem Therapeuten. Danach können Sie ihm gern seine Sachen bringen.»
Na großartig. Die Krankenschwestern auf der Suchtstation kannten schon ihren Namen, ohne, dass sie ihn genannt hatte. Am liebsten hätte sie den Rucksack direkt vor dem Empfangstresen abgestellt, sich auf dem Stiefelabsatz umgedreht und den Weg zurück in die Südstraße angetreten. Stattdessen murmelte sie ein kurzes «Danke», und begann, auf dem Gang auf und ab zu laufen.
Irgendwann ging weit hinten eine Zimmertür auf und der Therapeut, den Ramona auch schon kannte, kam heraus.
«Herr Engel kommt sofort», sagte er. «Wenn Sie ihm den Rucksack gegeben haben, wäre es nett, wenn wir uns auch einmal kurz unterhalten könnten.»
Ramona stieß einen verächtlichen Laut aus. Was wollte dieser selbsternannte Suchtexperte ihr schon sagen? Dass sie behutsam mit ihrem Partner umgehen solle? Dass Vorwürfe sie nicht weiterbringen würden? Dem würde sie was erzählen!
Die Tür, aus der der Therapeut eben gekommen war, öffnete sich erneut und Thomas kam heraus geschlurft. Sein Anblick verriet Ramona, dass er garantiert nicht versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, denn er sah nicht schlimmer aus, wie nach den Nächten heftiger Alkoholexzesse. Ränder unter den Augen hatte er immer. Ramona schloss die Augen für einen kurzen Moment und versuchte, ruhig ein und aus zu atmen.
Thomas lächelte, als er sie sah. Ramona zwang sich, zurück zu lächeln. Keine Vorwürfe. Hier war nicht der richtige Ort.
«Hallo, Schatz», sagte Thomas. «Schön, dass du da bist.»
Er hatte eindeutig geduscht. Als er ihr näherkam, roch er nicht einmal nach einem Zigarillo.
«Hi», sagte Ramona knapp, «hier, ich habe dir deine Sachen mitgebracht.»
Sie stellte den Army-Rucksack vor Thomas auf die Erde. Auf einmal spürte sie eine bleierne Müdigkeit, die sie sich vor ihm aber nicht anmerken lassen wollte.
Thomas nahm den Rucksack auf. «Komm, wir gehen in mein Zimmer. Da können wir reden», sagte er.
Reden? Über was? Darüber, dass die Landschaft so friedlich aussah? Darüber, dass Leo und Charlie in seiner Wohnung Ramonas Koffer vereinnahmt hatten? Natürlich, darüber konnten sie reden. Aber nicht über das, was Ramona auf der Seele brannte. Trotzdem ging sie hinter ihm her.
«Ist noch ein Bus hier hoch gefahren?», fragte Thomas.
Ramona sah an sich hinunter auf die sich bildenden Schneeränder fast oben am Schaft ihrer Stiefel und lachte freudlos auf. «Machst du Witze? Selbst Autos fahren kaum noch!»
«Du bist jetzt zu Fuß hier hoch gelaufen?», fragte Thomas. Seine Stimme hatte einen überraschten Unterton.
«Ja», sagte Ramona. «Und du hast verdammtes Glück gehabt, dass ich überhaupt in Lüdenscheid angekommen bin. Ich habe die letzte Einundsechzig von Werdohl genommen. Jetzt fährt nichts mehr.»
«Puh», sagte Thomas und schüttelte ungläubig den Kopf. «Dann kannst du auch nicht lange bleiben, oder?»
«Nein, ich muss wieder zurück. Irgendwie will der Braten ja auch noch verarbeitet werden. Den können wir essen, wenn du wieder zu Hause bist. Ich mache mir was anderes zu essen», erwiderte Ramona.
«Was machst du jetzt die nächsten Tage?», fragte Thomas.
Ramona richtete ihren Blick zur Zimmerdecke. Nur nicht aufregen. Ganz ruhig bleiben. «Wenn ich fertig bin, versuche ich irgendwie, in Richtung Hagen zu kommen», antwortete sie.
«Du willst also zu deiner Familie?», erwiderte Thomas.
«Ja, stell dir vor, ich kann mir besseres vorstellen, als Weihnachten alleine in deiner Wohnung zu verbringen», sagte Ramona. «Und in Arnsberg gibt es auch noch jemanden, für den es besser wäre, wenn ich jetzt da wäre.»
«Ich weiß», erwiderte Thomas. «Es tut mir leid.»
«Dafür kann ich mir nichts kaufen», sagte Ramona.
«Was machst du denn, wenn heute Abend nichts mehr fährt?», fragte Thomas.
Glaubte er allen Ernstes, dass Ramona dann blieb? «Dann nehme ich morgen früh den ersten Zug, der nach acht Uhr fährt.»
Sie hatte ihren Mantel nicht ausgezogen. Thomas kam und umarmte sie. Sie erwiderte die Umarmung nicht.
«Komm gut nachhause», sagte er. «Und grüß die Kater von mir.»
Wenigstens dachte er noch an seine tierischen Mitbewohner. «Ja, mache ich. Ein sauberes Klo haben sie schon.»
Thomas nickte und begleitete sie zur Tür. «Melde dich, wenn du wieder in der Südstaße bist.»
Ramona nickte stumm und verließ das Zimmer. Das Gespräch mit Thomas’ Therapeuten konnte sie jetzt so gut gebrauchen wie einen Riss in der Sohle ihrer Stiefel. Trotzdem klopfte sie an die Tür mit der Aufschrift R. Spielmann – psychologische Leitung.
Der Psychologe rief sie herein und wies auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Wieder öffnete Ramona ihren Mantel nicht. Sie durchquerte den Raum, indem sie die Absätze ihrer Stiefel bewusst laut auf den Vinylboden knallen ließ und zog ihn mit einem Ruck zurück.
«Sie kommen spät», sagte Spielmann. «Frau Kleinfeld hat sie doch heute Morgen schon angerufen. Das ist nicht gut für Herrn Engel, wenn er so lange warten muss.»
«Haben Sie mal durch das Fenster geschaut? Ich war heute Morgen noch in meiner Wohnung in Werdohl. Normalerweise stehe ich morgens um fünf Uhr auf. An Heiligabend hatte ich mir die Freiheit genommen, mal bis um halb neun zu schlafen. Ich bin mit dem letzten Bus, der von Werdohl nach Lüdenscheid gefahren ist, zum Sauerfeld gefahren und bin, als ich den Rucksack voll hatte, zu Fuß hierher gelaufen», sagte Ramona. «Ach, bevor ich es vergesse. Davor habe ich noch zwei Katzenklos ausgeleert, die mir beinahe eine Ammoniakvergiftung beschert haben. Und falls sie es noch nicht wussten: Die dazugehörigen Katzen gehören Herrn Engel.»
«Ich kann Sie ja verstehen», sagte der Therapeut. «Aber sie müssen ...»
Jetzt reichte es. Ramona spürte, wie ihre Wut wie Lava aus einem Hexenkessel über brodelte. «Ich muss? Einen Scheiß muss ich. Mein werter Freund meinte, es sei eine gute Idee, Putzmittel zu trinken, um mal wieder die volle Aufmerksamkeit zu haben. Obwohl ich kein Problem damit hatte, den Heiligen Abend hier zu verbringen. Wissen Sie, wer deshalb heute Abend auf mich verzichten muss? Mein Opa, einundachzig Jahre alt und seit eineinhalb Jahren Witwer, der sich wahrscheinlich heute Abend wieder die Augen aus dem Kopf weint, weil er meine Oma so vermisst. Und der mich, solange ich lebe, noch nie im Stich gelassen hat. Wissen Sie, was das gerade für ein Gefühl ist?»
Spielmann hob beschwichtigend die Hände. «Ich kann Sie ja verstehen, aber ...»
«Gar nichts können Sie. Obwohl, doch: Große Reden schwingen und Standardfloskeln runter beten, das können Sie hervorragend. Was haben Sie Herrn Engel erzählt? Dass es hilfreich wäre, wenn er sich einmal mehr Mühe geben würde? Ich sag Ihnen was. Der ist auf dem Ohr taub. Und jetzt werde ich gehen. Ich muss nämlich noch das Weihnachtsessen kochen, das ich heute gerne mit Herrn Engel zusammen gegessen hätte und jetzt einfriere. Während der ganzen Zeit werde ich Stoßgebete zum Himmel schicken, dass die Deutsche Bahn nicht auch ihren Dienst eingestellt hat und ich doch heute Abend noch zu meiner Familie komme.»
Der Therapeut versuchte noch, etwas zu erwidern, doch Ramona konnte nicht schnell genug sein Büro verlassen. Die Tür knallte hinter ihr zu. Sie hörte, wie sie wieder geöffnet wurde und Spielmann ihren Namen rief, aber sie war schon hinter der Glastür zum Treppenhaus. Auf den Aufzug wartete sie nicht, sondern lief die Treppen hinunter.
Der kalte Wind, der ihr vor dem Haus ins Gesicht blies, kühlte ihr Gemüt wieder ein wenig ab. Sie stapfte zurück auf den Hauptweg und von da aus auf die Zufahrtsstraße des Klinikgeländes.
Der Himmel zog sich wieder zu. Augenblicklich wurde das Schneegestöber wieder stärker. Ramona war beinahe froh, dass die Anwohner vor dem Wetter kapituliert und ihre Bürgersteige nicht frei geschoben hatten. Der ganze Weg, den sie etwa eine Stunde zuvor hinaufgelaufen war, ging jetzt mal mehr, mal weniger steil bergab. Die Abenddämmerung setzte schon ein und die Straßenlampen gingen an. Der Schnee hellte die Umgebung ein wenig auf, aber ihr blieb nur noch wenig Zeit, bis dass der Himmel nachtschwarz sein würde.
Die Kirchenglocken, die Ramona von Hellersen aus noch gehört hatte, waren verstummt und die Straßen waren menschenleer. Sie ging an Häusern mit erleuchteten Fenstern vorbei. Durch die Gardinen sah sie Weihnachtsbäume in den Wohnzimmern stehen. Sie dachte an die große Küche ihrer Großeltern, in der ihr Opa jetzt wahrscheinlich saß und sich mit Kreuzworträtseln davon abzulenken versuchte, dass er allein war. Bei dem Gedanken daran rann ihr eine einzelne Träne über das Gesicht. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihn so im Stich zu lassen? 
Sie konnte weder ihm, noch dem Rest ihrer Familie, die Wahrheit über Thomas Krankenhausaufenthalte sagen. Ihrem Opa würde es das Herz brechen und ihre Mutter würde auf sie noch zusätzlichen Druck ausüben, die Beziehung zu beenden. Aber was geschah dann mit Leo und Charlie? Zusätzlich kannte sie eine von Thomas’ Exfreundinnen. Und was die ihr erzählt hatte, sagte ihr, dass sie zuerst genug Raum zwischen sich und ihn bringen musste, bevor sie Schluss machte. Er hatte Agnes wie ein Besessener gestalkt, bis dass sie eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt hatte.
Als sie aus der Unterführung in den oberen Teil der Südstraße kam, wirkte der Ausblick durch Dunkelheit und Schnee, als würden die Straßenlaternen und Häuser aus einer riesigen Wolke herauswachsen.
Ramona hatte Schnee eigentlich schon immer geliebt. Er machte die Welt so viel lauschiger, stiller und in der winterlichen Dunkelheit heller. Auch jetzt flackerten in ihrer Erinnerung Bilder vom Rodeln auf dem Klosterberg, Schneewanderungen und Schneeballschlachten auf. Sie war nie die Treffsicherste gewesen, wusste aber auch heute noch, wie man die perfekten Wurfgeschosse formte. Von der Motorhaube eines Autos nahm sie sich zwei Hände voll Schnee und presste sie zusammen, bis dass sich eine feste Ku­gel geformt hatte. Sie holte aus und schaute, wie weit der Schneeball flog. Treffen konnte sie ja niemanden.
Sie ging vorsichtig weiter bis zu Thomas’ Haus. Der Nachbar hatte auf der Außentreppe Kies gestreut. Von ihr wurde das glücklicherweise nicht erwartet, genauso wenig, wie die Reinigung der Treppe im Haus.
Oben wurde sie schon erwartet. Leo tapste mit erhobenem Schwanz vor ihr her in die Ecke der Küche, in der die Fressnäpfe für ihn und Charlie standen. Ramona rollte mit den Augen. Ja, sie hatte eben etwas vergessen.
«Habt ihr Hunger?», fragte sie.
Im Napf war lediglich noch etwas Trockenfutter. Das sorgte zwar dafür, dass sie nicht dauernd wieder heraus gewürgte Haarballen entsorgen musste. Als alleiniges Futter stellte es die beiden Kater aber nicht zufrieden.
«Wisst ihr was?», fragte Ramona mit einem Blick auf Leo und Charlie. «Zur Feier des Tages gibt es Thunfisch.»
Sie nahm den Leeren der beiden Näpfe und stellte ihn auf die Anrichte. Wenn es etwas Besonderes gab, waren die beiden nicht zu bremsen und sie hätte wahrscheinlich in dem Versuch, die Dose Thunfisch zu entleeren, noch mehr Chaos angerichtet, als sowieso schon um sie herum herrschte.
Als die Kater zufrieden schmatzend über den Napf gebeugt fraßen, begann sie damit, den Braten zu verarbeiten. Eigentlich war es eine Schande, ihn nach dem Garen einzufrieren, war das Fleisch doch zart und nach drei Tagen in der Lake auch richtig gut durchgezogen. Allerdings war ihr der Appetit auf das Festessen vergangen.
Das Telefon klingelte. Sie schaute auf das Display. Es zeigte die Nummer ihrer Eltern an. Sie hob ab.
«Hallo?»
«Na? Essen schon im Topf?»
Ihr Vater hatte eine sehr direkte Art. Das fiel ihr bei solchen Gelegenheiten immer wieder auf. Sie merkte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete, als sie seine Stimme hörte. Jetzt nicht heulen. Bloß nicht losflennen wie ein Kleinkind.
«Ja, ist im Topf. Ich friere es aber ein.»
«Wo ist Thomas denn?»
«Im Krankenhaus. Hat sich wohl eine Lebensmittelvergiftung eingehandelt.»
«Was machst du dann noch in Lüdenscheid?»
«Ich musste ihm Sachen vorbeibringen, hier haben zwei Fellmonster noch auf ihre Tagesrationen gewartet und der Burgunderbraten hüpft auch nicht von alleine in den Topf und wird gar.»
Ramona merkte, wie es ihr von Wort zu Wort schwerer fiel, ihre Stimme zu stabilisieren. Der Kloß in ihrem Hals wurde immer dicker und schnürte ihr fast die Luft ab. Am liebsten hätte sie ihren Vater gebeten, sich ins Auto zu setzen und sie von Lüdenscheid abzuholen, aber bei dem Wetter wollte sie ihn nicht auf die Straße schicken.
«Schläfst du heute Nacht in Lüdenscheid?»
«Hier ist der Busverkehr komplett eingestellt. Wenn ich hier fertig bin, schaue ich mal, ob die Bahn noch fährt.»
«Aber dann ruf spätestens an, wenn du in Hagen bist. Heute bin ich auch nicht in zehn Minuten in Neheim.»
«Ich melde mich, sobald ich weiß, ob ich heute noch oder erst morgen fahren kann.»
«Pass auf dich auf.»
«Mhm.»
Mittlerweile liefen Ramona die Tränen in Rinnsalen über das Gesicht. Sie ließ es geschehen. Ihr Vater sah es ja nicht und im Hintergrund brodelte der Braten im Fett, so dass er auch sicherlich nicht alles hörte.
«Ist alles in Ordnung?», fragte er.
Scheiße, so gut konnte sie doch nicht schauspielern. Sie pustete ihren Atem durch den Mund aus. «Ja, alles klar. Bis gleich.»
«Bis gleich.»
Ein Klicken in der Leitung sagte Ramona, dass ihr Vater aufgelegt hatte. Sie sank auf einen Stuhl und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Jetzt fiel die ganze Anspannung von ihr ab und sie ließ ihren Tränen freien Lauf.
Wie so oft in ihren schwachen Momenten stand Charlie erwartungsvoll vor ihr. Sie klopfte mit der flachen Hand auf ihr Knie. Der Kater sprang auf ihren Schoß und lehnte sich an ihre Brust.
«Wenn es euch nicht gäbe ...», murmelte sie.
Vielleicht hätte sie dann schon die Flucht ergriffen, als es noch nicht zu spät war. Jetzt war es das definitiv. Jetzt würde Thomas sie nicht mehr in Ruhe lassen, solange nur zehn Kilometer zwischen ihren beiden Wohnungen lagen, die noch dazu so schnell mit dem öffentlichen Nahverkehr überwunden werden konnten. Und solange sie in einer Behörde arbeitete, die zwar neben einem Polizeirevier lag, in der jeder ein und aus gehen konnte, wie er wollte.
Sie drückte Charlie an sich und kraulte ihn unter dem Kinn. Sein Schnurren beruhigte sie ein wenig. Leo war auf den Stuhl neben ihr gesprungen und beobachtete sie und Charlie. Normalerweise näherte er sich ihr nur selten. Es schien fast so, als hätten die beiden Kater Thomas und sie unter sich aufgeteilt. Ihr war bewusst, dass Thomas Leo aus diesem Grund auch lieber hatte und dass er Charlie das spüren ließ. Sie selbst hatte Leo aber nie ihre Zuneigung verwehrt, wenn er sie von ihr verlangte.
Thomas’ Bitte, ihm Bescheid zu sagen, wenn sie in seiner Wohnung angekommen war, fiel ihr jetzt wieder ein. Sie stand auf und kramte mit Charlie auf dem Arm in der Tasche nach ihrem Mobiltelefon. Eine kurze SMS musste reichen. Er sollte nicht mitbekommen, wie es ihr gerade ging. Nicht, dass sie aus rücksichtsvollen Motiven so dachte. Dieser Moment gehörte einfach ihr, ihrer Familie und den beiden Katern. Würde er sie am Telefon heulen hören, würde er es am Ende noch damit erklären, dass sie ihn vermisste.
Als der Braten gar und sicher im Eisschrank verstaut war, wickelte sie sich in ihren Mantel und zog Schal, Handschuhe und Mütze langsam an. Die beiden Kater schauten ihr von den Küchenstühlen aus zu. Irgendwie schienen sie zu spüren, dass sie ihr heute Abend nicht helfen konnten.
Ein letztes Mal überprüfte sie, ob für die beiden wirklich alles für die nächsten Tage in Ordnung war. Dann nahm sie ihren Rollkoffer und verließ die Wohnung.
Das Schneegestöber war wieder genauso stark wie am Morgen. Ramonas Hoffnung auf einen Zug sank auf den Nullpunkt. Trotzdem stapfte sie die Straße hoch zur Unterführung, aus der sie dieses Mal die Abzweigung in die Fußgängerzone nahm.
Der Zugang zum Bahnhof lag auf der anderen Seite des Marktplatzes. Als sie diesen querte, blies ihr der Schnee aus allen Richtungen entgegen und sie musste die Lippen zusammenpressen, um überhaupt noch atmen zu können.
Schon als sie am Ausgang zum Finanzamt und zum Bahnhof den Angestellten der Deutschen Bahn unter einem Vordach stehen sah, wusste sie, dass sie sich die restlichen hundert Meter eigentlich auch sparen konnte. Trotzdem ging sie zu ihm hin.
«Hier fährt heute nichts mehr», sagte der Mann, der bis auf seine Augen in Kleidung eingewickelt war.
«Habe ich denn morgen früh eine Chance?», fragte Ramona.
«Ja, ich denke schon. Der Wetterbericht sagt, dass es heute Nacht aufhören soll, zu schneien. Also können wir davon ausgehen, dass morgen früh die Züge wie an jedem Sonn- und Feiertag fahren», antwortete der Bahnangestellte.
«Das heißt?», fragte Ramona.
«Morgen um halb acht fährt der erste Zug und ab dann stündlich», sagte der Mann. «Haben Sie trotzdem noch einen schönen Abend.»
«Danke», sagte Ramona. «Frohe Weihnachten.»
Der Mann tippte an seine Mütze und wandte seinen Blick in Richtung Bahnhof.
Ramona zog ihren Rollkoffer zurück unter das Vordach einer Bankfiliale. Dort stellte sie ihn ab und benutzte ihn als Stuhlersatz. Sie tippte die Nummer von zu Hause in ihr Mobiltelefon. Dass es die Nummer ihrer Großeltern war, wurde ihr erst bewusst, als statt ihres Vaters oder ihrer Mutter ihr Opa den Hörer abnahm.
«Sag mal, wo bist du gerade?», fragte er. «Das hört sich ja so an, als würdest du mitten im Schneesturm stehen. Sieh zu, dass du ins Warme kommst.»
«Mach ich. Morgen Mittag bin ich zu Hause», flüsterte Ramona.
«Das ist schön. Ich habe Heringe eingelegt. Davon kannst du morgen auch einen haben.»
Ramona biss sich auf die Lippe. Ihr schlechtes Gewissen fraß sie beinahe auf. Sie hatte ihren Opa heute im Stich gelassen und was machte er? Sorgte dafür, dass sie wie jedes Jahr an Weihnachten eines ihrer Leibgerichte bekam.
«Lecker, ich freue mich. Hättest dir aber nicht so viel Arbeit machen müssen.» Ihre Stimme zitterte.
«Ich freue mich einfach, wenn du nachhause kommst. Und jetzt mach, dass du wieder ein Dach über dem Kopf bekommst. Bis morgen.»
Ramona ließ die Hand mit dem Mobiltelefon sinken. Sie fühlte sich nicht in der Lage, aufzustehen und weiterzugehen. So blieb sie unter dem Vordach sitzen, bis dass ihre Tränen auf ihrem Gesicht gefroren.
Ende